Regionalia

Monika Taubitz

Almuts Briefe

Eine Windböe riß mir den Deckel der Papiertonne aus der Hand und klappte ihn zu. Und das war gut so. Ich war mit der nur locker verschnürten Briefsammlung losgeworden, was jahrelang unnötig Platz eingenommen hatte. Da war etwas gewesen, das mich störte, wenn mein Blick darauf fiel.

Mein Koffer stand gepackt im Flur. Die Tage vor der Reise waren, wie üblich, etwas hektisch verlaufen. Es hatte noch einiges zu überdenken und zu erledigen gegeben. Doch nun hatte ich es geschafft. Die Pflege der Pflanzen und die Leerung des Briefkastens waren geregelt, die Zeitung abbestellt. Die Wohnung sah einladend aus und rief mit ihrer in warmen Farbtönen gehaltenen Einrichtung und der wunderschönen Aussicht die Frage auf, warum ich überhaupt verreisen wollte.

Die Böe hatte die Kante des Deckels kräftig gegen meine Hand geschlagen, als sollte ich für mein Handeln bestraft werden. Der heftige Schmerz milderte sich jedoch allmählich, während ich auf mein Taxi wartete. Ursprünglich wollte Tilmann mich abholen, doch ich hatte dankend abgelehnt. Meinetwegen sollte er auf sein Jahrgängertreffen nicht verzichten.

Ich wartete vor der Haustür und kam langsam zur Ruhe, schaute zum Himmel empor, der in wolkenloser Bläue strahlte. Selbst von Westen schob sich keine Wolkenbank heran. Wunderbares Reisewetter, dachte ich. Ein frischer Wind bewegte die Zweige der Linde über mir. Die Luft war von süßem Duft erfüllt. Es war Juni.

Während ich still wartend dastand, begann ein Vogel zu singen. Eine Amsel, vermutete ich. Niemand sonst beherrschte solch vielfältige Kantilenen, sang mit so schmelzender, sehnsüchtiger und bezwingender Stimme, die nun ins Melancholische zu wechseln schien. Wahrscheinlich deutete ich die Töne falsch. Was wußte ich von Vögeln? Nie war ich in aller Frühe aufgestanden, um mich einem Vogelkundler auf seinen Beobachtungsgängen anzuschließen.

Noch immer sang der Vogel. Er sang ganz allein. Sonst ertönt von irgendwoher ein zweiter Vogelruf, der Antwort gibt. Mochte es diese eindringliche, diese einsame Stimme sein, die plötzlich meine Aufmerksamkeit erregte? Für mich war es auf einmal nicht mehr der Gesang eines Vogels. Nun vernahm ich eine andere Stimme. Almuts Stimme. Gewiß! Sie rief klagend nach ihren verschmähten Briefen. Ich wollte den Gedanken abschütteln. Er schien mir lächerlich zu sein.

Doch ohne es recht zu wollen, hatte ich schon den Deckel des Abfallbehälters angehoben und angelte nach dem Packen mit Briefen. Einige hatten sich aus der lockeren Umschnürung befreit und waren für mich unerreichbar geworden; den größten Teil aber hielt ich bald wieder in meinen Händen. In dieser gebückten Haltung, den Oberkörper tief in den Container gesenkt, erwischte mich der Taxifahrer. Er verkniff sich einen Kommentar und wendete den Wagen, während ich die Briefe rasch im Außenfach meines Koffers verstaute.

Als wir über die Serpentine zum Hafen hinunterfuhren, der See strahlend aufblitzte und in reiner Bläue unter uns lag, priesen wir unbeabsichtigt in derselben Sekunde das hinreißende Bild, das sich uns bot.

„Und wenn ich noch viele hundertmal hier fahren werde“, meinte der Taxifahrer, „so will ich doch nie vergessen, mich über diesen Anblick zu freuen.“

Das waren auch meine Gedanken gewesen. Während der Überfahrt blieb ich an der Reling stehen, so sehr der Wind auch meine Haare durcheinanderbringen mochte. Ich wollte das Bild des Sees und der dahinter aufragenden Berge, auf denen noch letzte Schneereste hell aus dem dunklen Felsgestein leuchteten, für die Zeit meiner langen Abwesenheit in mich aufnehmen. Hinter uns lag die Stadt, die aus dieser Entfernung vom Schiff aus das vollkommene Bild eines mittelalterlichen Ensembles bietet und dabei Unpassendes und Unschönes ausklammert.

Die bunte Zeile der Unterstadthäuser spiegelt sich im Wasser. Auf der darüberliegenden Felsterrasse lagert altersgrau die Burg, daneben wie ein Juwel in hellem Glanz das vor kurzem renovierte Neue Schloß. Es folgen weitere mächtige barocke Bauten aus fürstbischöflicher Zeit, die seit zwei Jahrhunderten verschiedenen Zwecken dienten; gegenwärtig beherbergen sie das Staatsweingut und das Droste-Hülshoff-Gymnasium mit einem Internat. Darüber thront das Fürstenhäusle, einstiger Ruheplatz der geistlichen Herren und später im Besitz der Droste. Die Häuseransammlung der Altstadt mit ihren Türmen und Giebeln wird von Weinbergen umrahmt. Ein Bild, wie es schöner nicht zu denken ist. Trotzdem verließ ich Meersburg, wie ich es oft tat, für eine Weile.

Ich erreichte den Zug in Konstanz rechtzeitig. Die Schwarzwaldbahn würde mich nun vom tiefsten Süden nordwärts bringen, und von Hamburg aus wären es nur noch ein paar Reisestunden, bevor ich das Schiff erreicht hätte, das zu einer der Halligen fahren würde.

Kartoniert, 160 S.
ISBN 978-3-86276108-1
EUR 12,00