Neue Bücher

Clara von Sydow

Alte Gefährten

Clara von Sydow (1854–1928) wurde in Stettin geboren und ist auf der Insel Rügen aufgewachsen. Sie arbeitete in Berlin als Lehrerin, zuletzt lebte sie in Stralsund. In der Werkausgabe des Neisse Verlages ist 2014 ihr Hiddensee-Roman "Einsamkeiten" (1911) erschienen.
Die Novelle "Spätsommer" wurde zuerst 1882 in der Zeitschrift "Die Gartenlaube" veröffentlicht, "Die Silhouette" 1885 in der renommierten Kulturzeitschrift "Westermanns Monatshefte". Beide Novellen konnte die Autorin 1887 im Piersons Verlag Dresden und Leipzig veröffentlichen, und weil die Manuskripte so lange im "Tischkasten" ausharren mußten, sollten sie unter dem Titel "Alte Gefährten" wieder ans Licht kommen. Die Handlungen beider Novellen sind auf der Insel Rügen und in Berlin angesiedelt.

 

Im Anhang:

Clara von Sydow. Zu ihrem 60. Geburtstage

Von Arnold Koeppen

(Unser Pommerland, 2. Jahrgang Stargard 1913/1914, Heft 8, S. 279–282, Heft 11/12, S. 362–364)

I

Ihr Leben

Ein Maientag mit all‘ seinem Zauber um mich herum! Nichts fehlt, was Dichtermund so oft an ihm besungen. Und der Blütenschnee ringsum läßt gar nicht den Gedanken aufkommen, daß Werkeltag sei. Festagsstimmung herrscht ohne Rücksicht auf den Kalender!

Und der Geíst scheut Werktagsarbeit und will sich in festlichen Gedanken ergehen. Ein lieber Zufall läßt da dem Wunsche die Erfüllung folgen: ich soll der Frau gedenken, der ich selbst schon so manche festliche Stunde verdanke, deren „Einsamkeiten“ einsame Stunden zu schönen gemacht und die nun selbst in Bälde einen Tag des Festes und der Erinnerung, ihren sechzigsten Geburtstag, begehen darf: der deutschen Dichterin Clara von Sydow.

Es ist Ehrenpflicht unseres Blattes, ihrer zu gedenken: ist sie doch in der Hauptstadt unserer Provinz geboren, hat auf pommerschem Boden die Tage ihrer Kindheit verlebt und ist in ihrem Dichten und Schaffen ihrer heimatlichen Scholle stets treu geblieben.

Clara von Sydow ist am 17. Juni 1854 zu Stettin geboren, wo ihr Vater Oskar von Sydow als Militärpfarrer wirkte. Nur drei Jahre hindurch ist sie ein Großstadtkind gewesen, denn schon im Herbste 1857 wurde der Vater zum Superintendenten in Altenkirchen auf Wittow, der nördlichsten Halbinsel Rügens, ernannt.

Hier auf Rügen hat die Dichterin ihre ganze Jugendzeit und noch einige Jahre darüber hinaus zugebracht, und ihre warmes Heimatgefühl wurzelt tief und fest in dem sagenreichen Boden der schönen Ostseeinsel.

Ein großer, herrlicher Pfarrgarten wurde zum Kinderparadiese, prächtige Obstbäume verschönten dem Kinde den Frühling durch überreichen Blütenschmuck und den Herbst durch einen nicht minder angenehmen Segen an verlockenden Früchten. Neben dem Lieblichen und Süßen stand das Romantische: uralte Eschen neigten sich vom nahen Kirchhof herüber und lenkten die kindliche Phantasie auf ernstere Bahnen.

Strenge Familienzucht engte den Verkehr mit Gespielen und Gespielinnen fast klösterlich ein – und ein Viertelstündlein ausgelassenen Tummelns mit der Dorfjugend mußte man sich durch List zu verschaffen suchen und wurde als Geheimnis ängstlich vor dem Wissen der Eltern bewahrt.

Haus, Hof und Garten waren längere Zeit des Kindes Welt, sogar die drei Kilometer entfernte Küste blieb lange Zeit unbekannt, bis man infolge großmütterlichen Besuches endlich einmal dem Meeresstrande in der alten Staatskutsche eine „erste, steife Visite“ abstattete.

Der Anblick der See machte auf das Mädchen einen überwältigenden Eindruck, und die „ensthafte Schönheit“ des baltischen Meeres trug viel zu der immer stärker werdenden Heimatliebe der Dichterin bei.

Den ersten Unterricht vermittelte der Kantor des Orts, dann kamen Erzieherinnen und ein Hauslehrer an die Reihe. Den ethischen Unterricht behielt sich der Vater selber vor. Er war für die Kinder äußerst interessant, da der Herr Superintendent durch anekdotische Belebung und stete Einflechtung von Selbsterlebtem das Interesse der Hörenden stets wach zu halten wußte. Wiederholungen fanden nicht statt und viel Positives ist wohl bei diesem Unterricht nicht haften geblieben. Dafür aber legte er, was zehnmal mehr wert ist, den Grund in die Kinderseelen zu vielseitigem Interesse hinein, wirkte fördernd auf ihren Geist und belebend auf ihre Phantasie ein.

Claras Mutter Ida, eine geborene v. Hagen, war des Vaters zweite Gattin. Aus erster Ehe stammten eine Schwester und ein Bruder, von denen die erstere 11 Jahre älter als unsere Dichterin war. Diese besaß noch sechs jüngere Geschwister, von denen das jüngste Kind, ein Bruder, starb, als sie selbst elf Jahre alt war. Der Tod des wunderschönen Knaben, der von der Schwester schwärmerisch geliebt wurde, hat ihre junge Seele mit des Lebens tiefstem Leide bekannt gemacht und einen ersten Schatten auf ihre sonst so sonnige Jugendzeit geworfen.

Im Jahre 1866 verheiratete sich Claras älteste Schwester mit dem Kreisrichter v. Bülow, und das junge Paar verlebte das erste Jahr seiner Ehe in Berlin. Verwandte in Berlin zu haben, hat schon von jeher etwas Verlockendes gehabt, und so ward denn auch dem zwölfjährigen Mädchen die große Freude zuteil, unter väterlicher Obhut eine Reise nach der Reichshauptstadt zum Besuch der Schwester unternehmen zu dürfen.

Der Aufenthalt in Berlin brachte vor allen Dingen auch ein Zusammentreffen mit Claras Onkel, dem berühmten Geographen Emil von Sydow, und es war dem Mädchen ein unvergeßlicher Augenblick, dem Schöpfer des zu Hause so oft benutzten Atlanten gegenüber zu stehen.

Und wieviel des Herrlichen bot der Aufenthalt in der Residenz der Seele des für alles Schöne leicht empfänglichen Mädchens noch! Da gab es zwei Besuche im Opernhause; und Webersche und Mozartsche Melodien klangen nach einer „Freischütz“- und einer „Zauberflöte“-Aufführung in der Erinnerung der entzückten Hörerin durcheinander. Doch der Ereignisse größtes war ein Besuch im Königlichen Schauspielhause. Man gab Goethes „Egmont“. Halb berauscht von dem Gehörten und Gesehenen, kehrte das Mädchen in die heimatliche Stille am Ostseestrande zurück, mit dem festen Entschlusse, dem deutschen Aufsatze von nun an alle Sorgfalt und Liebe zuzuwenden.

Im nächsten Jahre vertauschte sie das Haus der Eltern mit dem der verheirateten Schwester, deren Gatte inzwischen nach Frankfurt a. O. versetzt worden war.

Vom Familienhafen des geschwisterlichen Hauses aus besuchte sie nun anderthalb Jahre die erste Klasse der höheren Töchterschule zu Frankfurt, in die sie sogleich ihrer vorgezeigten vorzüglichen Aufsätze wegen aufgenommen worden war.

Die achtzehn Monate Frankfurter Aufenthaltes wurden nun – die Not zwang dazu – fleißig benutzt, die oft bedenklichen Lücken im positiven Wissen aufzufüllen; allen andern überlegen aber war die neue Schülerin im deutschen Aufsatz – und ihr erster, eine „Charakteristik Wilhelm Tells“ brachte ihr den Vorwurf ein: „Den haben Sie unmöglich selbständig angefertigt!“ was bei der also unschuldig Gekränkten nicht geringe Empörung auslöste.

Die heiteren Frankfurter Tage wurden noch dadurch bedeutend verschönt, daß das bisher an zahlreichen Umgang mit Gleichaltrigen eben nicht gewöhnte Mädchen die erhebende Wirkung einer reinen Freundschaft zu einem edlen und hochbegabten Mädchen ihres Alters erfahren konnte.

Die Konfirmation der Fünfzehnjährigen im Elternhause schloß den Aufenthalt in Frankfurt und auch den äußeren Bildungsgang ab, denn nun galt es, im elterlichen Haushalte sich wirtschaftlich zu betätigen und den jüngeren Geschwistern in mancherlei Disziplin Lehrerin zu sein.

Und nun kam auch die Zeit in der sich in Clara von Sydow die Dichterin regte. Eine höchst romantische Novelle „Cornelia“ wurde heimlich niedergeschrieben, vom Vater aber entdeckt und als „arge Zeitverschwendung“ kassiert.

Der Novelle folgte ein Roman „Irma“ in einer Fülle von Fünfpfennigoktavheften niedergeschrieben, deren Anschaffung unter der Marke „Vokabelhefte“ bewerkstelligt worden war. Kühn zeigte die Verfasserin in gerechtem Autorstolze das fertige Opus dem Vater, der sie nach einigen Tagen banger Erwartung mit dem Urteil beglückte: „Die kleinen Hefte haben mir viel Freude gemacht.“

Ein Gedicht, dem Andenken eines 1870 bei St. Privat gefallenen Vetters gewidmet, ließ der Vater gelegentlich einer Reise nach München Paul Heyse sehen. „Lassen Sie das Mädchen weiter dichten; in der steckt etwas!“ waren des Meisters anerkennende und ermunternde Worte.

Die beim Unterricht der jüngeren Geschwister immer deutlicher werdende Erkenntnis des noch immer bedeutenden Mangels an positiven Kenntnissen ließ in der Dichterin den Entschluß reifen, die Eltern um einen nochmaligen Aufenthalt in Franfurt zu bitten, um dort das Seminar zu besuchen. Nach schwer erlangter Einwilligung fing die Zeit ernsten Lernens von neuem an – und schon nach einem Jahre hatte Clara ihr Lehrerinnenexamen glücklich bestanden.

Ein Beweis für ihren außerordentlichen Eifer, zugleich aber auch dafür, daß man vor vierzig Jahren im Lehrerinnenberufe noch leichter zum Ziele gelangen konnte, als heutzutage. Während des zweiten Frankfurter Aufenthalts lernte Clara von Sydow auch Ernst von Wildenbruch kennen, der zu jener Zeit dort als Referendar am Kreisgericht arbeitete und gesellschaftlich im Hause der Schwester verkehrte. Mit flammender Begeisterung las Wildenbruch damals öffentlich und privatim seine Kriegsepen „Vionville“ und „Sedan“ vor.

Abermals ins Vaterhaus zurückgekehrt, galt es von neuem, die Pflichten der älteren Schwester mit denen der Haustochter und der in der Gemeinde tätigen Pfarrerstochter zu vereinen, wobei jede freie Stunde der literarischen Tätigkeit gewidmet wurde. Es war eine Zeit bewegten Stillebens, nur dann und wann von kleinen Reisen in die deutschen Mittelgebirge unterbrochen, die gemeinschaftlich mit dem Vater unternommen wurden. Auf der Hin- oder Rückreise wurde des öfteren in Dresden und Berlin Station gemacht, um sich in der kurzen Zeit des Aufenthaltes ganz dem Kunstgenusse hinzugeben.

Im Jahre 1876 entstand der Zweiundzwanzigjährigen Dichterin erstes Drama „Die Tochter Pharaos“, das ihr einen begeisterten Lobbrief Wildenbruchs einbrachte. Seines Versprechens aber, das Drama auf die Bretter bringen zu wollen, hat er später, umstrahlt von dem Glanze eigenen Ruhmes, gänzlich vergessen. Auch ein zweites Drama, „Annina von Murano“ konnte es, gleich dem ersten, zu keiner Aufführung bringen.

In die literarische Welt eingeführt wurde Clara von Sydow vor allen Dingen durch ihre Novelle „Was macht man auf Hohenstein?“ die Julius Rodenberg für wert und geeignet hielt, in der Deutschen Rundschau veröffentlicht zu werden. Auch Westermanns Monatshefte, die damals unter der Leitung Spielhagens standen, brachten eine Novelle aus ihrer Feder „Silhouette“. Damit war der Bann gebrochen, und bald fehlte es nicht mehr an ehrenvollen Aufträgen der angesehensten Redaktionen, die sich um Beiträge aus ihrer Feder bemühten. Auch vermittelte die literarische Tätigkeit der nun allseitig Anerkannten manchen anregenden literarischen Verkehr, so zum Beispiel den des Literaturhistoriker Johann Schmidt, dessen Gattin ihr später eine intime Freundin wurde. Diesen Verkehr zu pflegen war der Dichterin dadurch möglich, daß sie in den siebziger und achtziger Jahren den Winter häufig mit einer jüngeren Schwester zusammen in Berlin verbrachte. Das waren dann jedesmal gar köstliche Monate für die beiden. Ein im besten Sinne des Wortes freies Studentenleben wurde da geführt, man mietete eine oder zwei Stuben, aß auswärts oder kochte selbst und widmete die ganze Zeit vielseitiger Ausbildung oder angenehmer und anregender Geselligkeit.

Im Jahre 1885 erkrankte der Vater schwer, nachdem er schon einige Jahre zuvor einen ähnlichen Unfall durch eine glückliche Wiesbadener Kur überwunden hatte. Ein Aufenthalt in Wildungen brachte keinen Erfolg, im Juli 1886 starb der hochbegabte Mann im Alter von 75 Jahren.

Damit war des Hauses festes Band gelöst, die glückliche Sorglosigkeit der Jugend für die Schwestern vorüber – und das Gnadenjahr ließ den Hinterbliebenen noch Zeit, von Elternhaus und Vatergrab, von Garten, Dorf und Meeresstrand, den treuen und lieben Zeugen vergangener schöner Zeiten, für immer Abschied zu nehmen.

Im Herbst 1887 zogen die Mutter, unsere Dichterin und zwei andere Schwestern nach Berlin, das man deswegen als Aufenthaltsort wählte, weil so die unverheirateten Brüder die beste Gelegenheit hatten, das Mutterhaus aufzusuchen.

Das nächste Jahrzehnt stand für Clara unter dem Zeichen der Krankenpflege: fünf Jahre hindurch war die Mutter schwer leidend, bis sie 1907 starb, eine andere verheiratete Schwester, die von Kindheit an äußerst zart war, bedurfte oft Wochen und Monate hindurch der schwesterlichen Pflege. „Nun fällt eins nach dem andern, manch liebes Band Dir ab!“ So konnte auch Clara von Sydow sagen, als der Tod die Reihen der lieben Ihrigen immer mehr zu lichten begann.

Erschütternd wirkte auf sie das plötzliche Hinscheiden ihrer ältesten Schwester, bei der sie in Frankfurt so sonnige und unvergeßlich schöne Tage ihrer Jugendzeit verlebt hatte, und auch ihr Schwager folgte der verstorbenen Frau bald darauf in den Tod.

Da wurde denn von Jahr zu Jahr mehr das Heim der Dichterin in Berlin zum Sammelpunkt für die übrigen Mitglieder der einst so zahlreichen Familie; für jene selbst aber brach eine Zeit an, die ihr mehr als die Jahre langer Krankenpflege zuvor Gelegenheit gab, sich dem geliebten Berufe weihen zu können. Als Hauptwerk dieser Zeit erneuter dichterischer Tätigkeit ist der Roman „Einsamkeiten“ zu begrüßen, der, bei Beck in München erschienen, eine glänzende Aufnahme gefunden hat.

Anregender Verkehr mit gleichgesinnten und gleichgestimmten Seelen, wie z. B. der Frau Staatssekretär Lisco, und häufige Reisen, entweder in die alte Heimat, ins Gebirge, oder an die Nordsee, das sind die Faktoren, die der Dichterin Lebens- und Schaffenskraft unvermindert bis auf den heutigen Tag erhalten haben. Sind ihr auch keine lauten, lärmenden Tageserfolge beschieden gewesen, so hat sie sich doch eine Lesergemeinde erworben, deren innerer Wert mehr bedeutet als prahlerische Zahlen. Und wer die Dichterin Clara von Sydow in ihren Werken kennen gelernt hat und dieser Bekanntschaft würdig war, läßt nicht wieder von ihr, denn

„Ein edler Mensch zieht edle Menschen an

Und weiß sie festzuhalten!“

II

Ihr Werk

Aeußerlich nicht allzu umfangreich, dafür aber von um so höherem innerlichen Werte, steht das bisherige Lebenswerk der Dichterin Clara von Sydow vor uns, dem wir wünschen, daß spätere Jahre es noch um manch‘ einen wertvollen Band bereichern mögen.

Abgesehen von den novellistischen Jugendarbeiten „Cornelia“ und „Irma“, die schon der Frankfurter Schülerinnenzeit entstammen, und einigen sehr hübschen heimatlichen Jugenderzählungen, die der verstorbene Julius Lohmeyer in seiner damals so prächtig ausgestatteten Zeitschrift „Deutsche Jugend“ veröffentlichte, müssen wir als der Dichterin Erstlingswerk von wirklich literarischer Bedeutung das Drama „Die Tochter Pharaos“ betrachten.

Es entstand im Jahre 1876 und zeigt, daß die erst zweiundzwanzigjährige Verfasserin vorzüglich verstand, den durch die Bibel gegebenen Stoff selbständig psychologisch zu gestalten. der erste Kritiker des Dramas war Ernst von Wildenbruch. In einem begeisterten, auf die Technik und die dichterischen Werte des Werkes liebevoll eingehenden Briefe an die Verfasserin gesteht er: „Ich habe über die Lektüre vergessen, Mittagbrot zu essen.“ Wildenbruchs Schreiben bildete den Anfang eines regen Briefwechsels zwischen Clara von Sydow und dem Dichter, der selbst in damaliger Zeit begann, alle seine Kräfte einzusetzen, um auf dem Gebiete der dramatischen Kunst Lorbeeren zu erringen.

Erreichte es die jugendliche Verfasserin auch nicht, mit dem Drama auf die Bühne zu gelangen, so öffneten sich ihren novellistischen Arbeiten doch die so streng verschlossenen Tore der vornehmen angesehenen Monatszeitschriften.

Im Jahre 1881 brachte Julius Rodenberg in seiner sieben Jahre zuvor gegründeten Zeitschrift „Die deutsche Rundschau“ die Novelle „Was macht man auf Hohenstein.“ Die Annahme durch den feinsinnigen Herausgeber, der mit seltener Sicherheit Gediegenes zu erkennen wußte, bürgt für die Güte des Werkes.

Zu gleicher Zeit veröffentlichte die Gartenlaube die Erzählung „Dorette Rickmann.“

Beide vereinigt brachte der Rundschauverlag der Gebrüder Paetel, Berlin, als Buch heraus, ebenso drei Jahre später die Novelle „Dasselbe Lied“. In ihr entzückt uns vor allem die überaus gelungene Charakteristik der Hauptpersonen. Die Erzählung hat ihren Stoff aus der Theaterwelt der Gegenwart genommen. Manche bekannte Künstergrößen scheint der Verfasserin bei der Gestaltung dieser oder jener Person vorgeschwebt zu haben. Im Mittelpunkt der Handlung steht ein Genie, eins von der Art, die leicht errungene Erfolge sicher und hochmütig machen und die der Plicht, unermüdlich weiterzuarbeiten, vergißt. Das Publikum wendet sich von ihm, der von seiner Höhe Herabgestürzte gerät in Verzweiflung. Ihm rettet die Liebe einer Sängerin, als Künstlerin und als Mensch gleich hochstehend. Sie verliert ihre Stimme – und der Undankbare wendet sich von ihr. Aus der Sängerin wird nach Zeiten rastlosen Fleißes eine hervorragende Schauspielerin, der es gelingt, in glücklich gewählter Stunde durch das leise Singen „desselben Liedes“, das er ihr einst gewidmet, seine Liebe zu ihr wieder zu entfachen.

Die Aehnlichkeit des Milieus eines bekannten neueren Romans eines anderen Autors mit dem dieser ergreifenden Erzählung ist zum mindesten verblüffend.

Im Jahre 1887 erschien bei Pierson in Leipzig – (leider dort!) – der Novellenband „Alte Gefährten“. Er enthält die beiden Erzählungen „Sihouette“, die Spielhagen in Westermanns Monatsheften veröffentlicht hatte, und „Spätsommer“, die zuvor in der Gartenlaube erschienen war. Es fehlte nicht an Beurteilern, die diese Perlen der Novellistik auf ähnliche Höhe stellten, wie viele Novellen der beiden Meister dieser Gattung Paul Heyse und Theodor Storm.

In kurzen Zwischenräumen folgten die Erzählungen „Miteinander“ (1910 als Buch erschienen), „Die Sonne des Genies“, „Mutter“, „Wer sie war“, „Die Wage steht“ und „Onkel Malte“.

Von allen diesen kennzeichnet die letzte das liebenswürdige Erzählertalent der Dichterin in so hervorragendem Maße, daß der auch die vorliegende Zeitschrift herausgebende Pommernverlag beschlossen hat, den „Onkel Malte“ als neuen Band seiner Heimatbücher herauszugeben und somit alle unsere Leser uind die Freunde unserer literarischen Bestrebungen mit dieser prachtvollen, auf pommerschem Boden spielenden Erzählung bekannt zu machen.

Auf das Gebiet des sozialen Romans begab sich die Dichterin mit dem umfangreicheren Werke „Der Ausweg“, das Wilhelm Hertz, der Inhaber der Besser’schen Buchhandlung, im Jahre 1893 als Buch erschienen ließ, nachdem es vorher die Berliner Kreuzzeitung im Feuilleton gebracht hatte.

Es ist ein gefährliches Gebiet, der soziale Roman, doppelt gefährlich für die Frau, die es betreten will.

Aber, das sei vorweg gesagt, es ist mit viel Geschick und gutem Glück geschehen. Der gezeigte „Ausweg“ aus den Wirrnissen wirtschaftlichen Elends und sozialer Kämpfe ist menschlich schön gedacht und dichterisch schön geschildert: Geht aus Eurem Eigennutz heraus und befleißigt Euch der Selbstlosigkeit! Ihr, die Ihr im Leben oben steht, steigt mit suchender Seele hinaub in die Tiefen, und lernt verstehen – fördert und hebt empor! Und Ihr, die Euch das Schicksal tief nach unten gestellt hat, lasset Euch suchen und verschließt Euch nicht, verschränkt nicht trotzig die Arme, sondern reicht sie hin und lasset Euch emporheben, helfen und fördern!

Ziehet Euch in Liebe zu einander hin! - -

Das ist die Tendez des Romans. Nur leider: er predigt den Wölfen den Frieden mit den Schafen und ermahnt die Löwen, sich von Gras und Kräutern zu nähren. Die Menschen, die so handeln sollten, die könnten nicht wir sein, die müßten andere sein, zu denen wir uns aus eigener Kraft erst verwandeln müßten. Das eigene Wesen bis in den tiefsten Kern hinein umzugestalten, geht aber über Menschenmacht – und darum bleibt der „Ausweg“ Clara von Sydows das, was die meisten der anderen sozialen Romane auch sind: eine Utopie! – Leider! –

Das Werk entstand zu der Zeit, als der Naturalismus bei uns Trumpf war.

Gewiß, ohne Konzessionen an die herrschende Zeitströmung ist das Werk nicht, doch muß ihm zum Ruhm nachgesagt werden, daß es deren Vorzüge zeigt und ihre Fehler zu vermeiden weiß. Das von hervorragender Beobachtungsgabe zeugende Anfangskapitel ist von weitgehender Realistik und findet doch auch den Beifall des Aesthetikers.

In größeren Provinzblättern erschienen in den nächsten Jahren die Erzählungen „Spielmanns Marie“, „Des Bruders Sachen“, „Fröhliche Christen“ u. a., deren Abfassung durch die literarische Abteilung des Ministeriums des Innern angeregt worden war.

Nicht vergessen sei, daß zwischen diesen Erzählungen auch zahlreiche lyrische Gedichte entstanden. Einige Proben bringt die vortreffliche Auswahl „Pommersche Lyrik“ von Max Guhlke.

In geraumem Zeitabstande vom ersten vollendete die Dichterin jetzt ihr zweites dramatisches Werk „Annina von Murano“. Es ist ein Renaissancedrama, nicht ohne theatralisches Geschick aufgebaut. Der bekannte Theaterverlag Felix Bloch, besonders sein literarischer Ratgeber Herr von Perbrandt, sowie mehrere hochangesehene Schauspieler und Schauspielerinnen Berliner Bühnen interessierten sich lebhaft für das Werk und seine Aufführung.

Eine Kette von widrigen Umständen aber, sowie die damalige derartigen Dramen ungünstige Geschmacksrichtung ließen es zu einer solchen leider nicht kommen.

Todesfälle in der Familie, Krankheiten von nahen Angehörigen, die jahrelanges, geduldiges Pflegen verlangten, nahmen der Künstlerin Zeit, Kräfte und Gedanken in Anspruch – und die Stimme der Muse schwieg.

Sollte sich Apollos holde Begleiterin etwa gänzlich von ihrer ernsthaften und getreuen Jüngerin abgewandt haben, um nur andere noch mit ihrer Gunst zu beglücken – oder unglücklich zu machen?

Alle derartigen Fragen und Zweifel wurden nach einer Pause langen Wartens plötzlich zerstört: in dem berühmten, vornehmen Verlage von Oskar Beck, München erschien 1910 ein Buch Clara von Sydows, das unstreitig zu den besten seiner Zeit gehört, der Roman „Einsamkeiten“.

Er fand in der Kritik eine geradezu glänzende Aufnahme. Eine Unzahl von lobenden Besprechungen aus ersten Federn gaben der Dichterin die volle und beglückende Gewißheit, Hervorragendes, Vollendetes geschaffen zu haben.

Der Kunstwart, das Literarische Echo, die Tägliche Rundschau, der Tag und viele andere erstklassige Zeitschriften und Zeitungen wiesen einmütig, nachdrücklich mit ungeteilter Anerkennung auf der Dichterin Meisterwerk hin.

Eine der wichtigsten Stimmen von allen war die des Literaturhistorikers Prof. Dr. Alfred Biese, der über das Buch folgendes schreibt:

„Es war im Herbste dieses Jahres, da begleitete mich in die Einsamkeit eines Landgutes und dann in die Felsen- und Meereseinsamkeit von Helgoland ein stilles und ernstes, kluges und sinniges Buch. Und aus ihm brach mir zugleich unwiderstehlich der Zauber der Einsamkeit meiner Rügen-Heimat entgegen, mit solchen echten Farben kann Land und Leute, Wald und See, Klippe und Düne nur die Liebe schildern, die dort zu Hause ist. …

‚Einsamkeit‘ hat die Kraft in sich, jedem ernsten Leser weihvolle und nachdenkliche Stunden zu bereiten, ja, es lockt vielleicht manchen, der den wundersamen Reiz der Ostseeinsel noch nicht kennt, auch ein paar Wochen der Einsamkeit an ihrem Strande, in ihren Buchenwäldern, auf ihren Kreidefelsen zu verleben oder zu verträumen. …

Ein solches Buch verlangt Hingabe, stille Versenkung. Es setzt nicht von Spannung zu Spannung, sondern läßt in schwere, grüblerische Menschen hineinschauen, die innerlich einsam sind, weil sie eben so viel Tiefe in sich bergen, und die sich daher auch gern nach außen hin verhüllen und verbergen, in herber Keuschheit oder in einem Selbstgefühl, das sich doch auch ein wenig an Geringschätzung der anderen nährt.“

Des Kritikers übersichtliche Inhaltsangabe des Romans haben wir absichtlich fortgelassen, fügen auch keine eigene hinzu, mag ein jeder zu diesem Buche greifen und Erhebung in feierlichen Stunden aus ihm gewinnen.

Und wir geben der Hoffnung noch einmal Ausdruck, daß Clara von Sydow ihr letzes Wort noch nicht gesprochen haben möge; wir erwarten noch mehr Früchte schönen, reifen Könnens von ihr.

Die Besten ihrer Zeit haben sie gelobt, sie hat ihnen genuggetan, und

„Wer den Besten seiner Zeit genuggetan,

Der hat gelebt für alle Zeiten!“

 

Edition Gellen, Band 11

Nach der Originalausgabe Dresden und Leipzig 1887
Mit einem Porträt der Schriftstellerin
von Arnold Koeppen (1914)

Kartoniert, 304 S.
ISBN 978-3-86276-133-3
EUR 14,00