Ältere Ausgaben

SILESIA NOVA 1/2014

Inhalt

Detlef Krell: Editorial

Jurko Prochasko: Kleine Europäische Revolution

Andreas Schönfelder: Europa im Kampf der Kulturen

Karl Schlögel: Wiedergelesen am Ende des 20. Jahrhunderts: T.G. Masaryks „Rußland und Europa“

Offener Brief von Juri Andruchowytsch zur Lage in der Ukraine, 23. Januar 2014

Łukasz Wenerski: Die gesellschaftlichen Beziehungen zwischen Polen und der Ukraine

Krzysztof Ruchniewicz: Polen im vereinigten Europa. Bilanz 10 Jahre nach der Erweiterung der Europäischen Union

Anton Sterbling: „Die Schlafwandler“ – eine soziologische Lesart

Poet sucht Target. Besuch bei Tadeusz Różewicz in Konstancin, aufgenommen für geheime Zwecke der Überprüfungskommission. Von Anna Żebrowska. Zum Tod von Tadeusz Różewicz am 24. April 2014

Martina Pietsch: Adel in Schlesien und in der Oberlausitz. Deutsche und polnische Museen widmen sich einem lange vernachlässigten Erbe

Joachim Rott: Wolfgang Jaenicke (1881–1968). Demokrat, Politiker, Diplomat. Eine biografische Spurensuche von Breslau bis Rom

Jan Pacholski: Paul Keller – wieder im Waldenburger Bergland

Rezensionen

Joachim Rott über Sascha Hinkel: Adolf Kardinal Bertram

Wolfgang Schlott über Christian Schmidt-Häuer. Erlebte Weltgeschichte

Rainer Sachs über Barbara Glinkowska u.a.: Von den Anfängen der Bunzlauer Keramik

Editorial

 

Liebe Leserinnen und Leser,

„Meinst du, die Russen wollen Krieg?“ fragte der russische Schriftsteller Jewgeni Jewtuschenko im Jahre 1961 in seinem weltbekannt gewordenen Gedicht.

Mich friert bei dem Gedanken, darauf heute eine Antwort geben zu sollen.

In einem beispiellosen Feldzug hat Rußlands Präsident Putin das Territorium eines souveränen europäischen Staates annektiert. Nichts ist mehr, wie es noch vor Wochen zu sein schien: die Ukraine, die Europäische Union, die Idee eines in Frieden und Freiheit geeinten Europa, auch Rußland nicht.

Hochgerüstete Kapuzenmänner schaffen in der Ostukraine zielstrebig und effektiv Tatsachen, die jede ernstzunehmende Staatsgewalt zwingen müssen, gegen diese Destabilisierung der öffentlichen Ordnung, gegen Mord und Terror mit aller zu Gebote stehenden Härte vorzugehen. Schon im Januar berichtete die ukrainische Schriftstellerin Oksana Sabuschko von den Männern in „ukrainischen Milizen“ auf der Krim, die akzentfrei Russisch sprechen und auf der Bank Rubel einwechseln. An der Schwelle zu einem Bürgerkrieg forciert die Farce eines Referendums die Spaltung des Landes. Europa soll die Ukraine aufgeben, der Fahrplan dafür wird im Kreml geschrieben.

Der russische Präsident hätte jederzeit der Eskalation der Gewalt in der Ukraine Einhalt gebieten können. Er hätte die für den 25. Mai angekündigten freien Wahlen abwarten, beobachten und deren Ergebnis akzeptieren können. Er hätte zu einer offenen Debatte beitragen können über die Zukunft der in der Ukraine beheimateten Russen, über die ukrainisch-russischen und russisch-europäischen Beziehungen.

Aber alles das sind nicht die für den einstigen KGB-Offizier gültigen Kategorien. Putin vergibt nichts und niemandem. Für ihn war die Auflösung der Sowjetunion die größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts. Die unzähligen Angebote des Westens – der Europäischen Union wie der USA und der Nato –, gelten ihm als Signaturen der Schwäche. Er hörte die Signale zum letzten Gefecht. Diese Lektion bekommen jetzt die Ukrainer erteilt. Den Esten, Letten, Litauern, Georgiern, Moldaviern und weiteren Völkern, denen das Ende des Sowjetimperiums keine Schmach, sondern Befreiung war, ist sie unmißverständlich. Die Weißrussen durften ja noch nicht einmal davon träumen, von Freiheit mehr als nur träumen zu dürfen.

Kein vernünftiger Mensch im Westen will einen Krieg. Das weiß Putin, das gehört in sein Kalkül. Verhandeln könnte für die Ukraine aber nur eine in freien Wahlen legitimierte Regierung. Ob es zu diesen Wahlen kommen wird, kann heute niemand sagen. Was bleibt demnach? Die Macht des Geldes? Wirtschaftliche Sanktionen gegen das Putinregime und sofortige Milliardenhilfen für die Konsolidierung der Ukraine. Alles ist besser als Krieg. Das wird uns allen richtig Geld kosten, das werden wir zu spüren bekommen. Gibt es dafür Mehrheiten in der Europäischen Union? Am Abend der Europawahlen am 25. Mai werden wir es auf dem Monitor sehen.

Es gibt nichts zu verhandeln mit Rußland. Das wird in diesen Stunden offenbar, da die Halbwertszeit des Planes einer zweiten Genfer Konferenz schon überschritten ist. Rußlands Bedingung, daß die Separatisten vom Schlage des in „Sondereinsätzen“ gestählten Afghanistan-Okkupanten und selbsternannten „Volksbürgermeisters“ Wjatscheslav Ponomarjov, der Verwaltungsgebäude okkupiert, Geiseln nimmt und jedem Widerspruch mit Vergeltung drohnt, am Verhandlungstisch sitzen sollen, ist für die Ukraine unannehmbar. Auch das weiß Putin, ist Teil seiner Strategie.

Nichts ist mehr in Europa, wie es noch vor Monaten schien, auch Deutschland nicht. Wer heute die Foren der Internetausgaben deutscher Medien liest, begegnet einer schier überwältigenden, ja begeisterten Zustimmung für Putin und seine Politik. Da wird Putin gar für den Friedensnobelpreis bejubelt. Putin habe „für die Einsetzung von Recht und Gesetz in atemberaubendem Tempo gesorgt“, war im Internetforum der F.A.Z. zu lesen. Die Europäische Union wird geradezu als eine Art Mafia verschrien im Vergleich zu den geordneten Verhältnissen unter Putin.

Die ukrainische Regierung – vom Parlament gewählt und befristet bis zu den Wahlen am 25. Mai – gilt diesen mit Nicknames maskierten „Foristen“ als faschistisch, amerikahörig, volksfeindlich, illegitim. Nun sollte man dieses Tummelfeld der zumeist anonymen Wortmeldungen nicht überbewerten, aber einen klaren Dissens zur veröffentlichten Meinung belegen sie zweifellos.

In dieser Ausgabe von Silesia Nova haben wir versucht, einige Beiträge zur Situation in der Ukraine und in Europa zusammenzustellen, die weniger der Aktualität verpflichtet sind als daß sie einen etwas distanzierteren Blick wagen.

Zuerst kommt ein Ukrainer zu Wort, was in diesen Tagen viel zu selten geschieht. Der Schriftsteller und Publizist Jurko Prochasko hat auch die Proteste auf dem Majdan mitgestaltet. Er erläutert uns, warum so viele Menschen in der gesamten Ukraine in dieses Europa wollen, das offensichtlich so vielen EU-Europäern so irriterend verhaßt oder gleichgültig zu sein scheint. Putins Regime qualifiziert er heute als „eindeutig faschistisch“. Seine Hoffnung ist, daß wir Europäer in der Europäischen Union die Europäer an der Grenze zu Rußland ernster nehmen, dann hätten wir gemeinsam auch die Chance zu einer Kleinen europäischen Revolution: „die Fähigkeit und Reife der Zivilgesellschaft, die wunderbar ohne autoritären Paternalismus auskommt; die Erfahrung, daß Freiheit ohne Chaos möglich ist, dafür mit Verantwortung; daß Selbstbestimmung und Befreiung nicht auf Kosten von Toleranz und Pluralismus geht“.

Andreas Schönfelder wirbt für den „energischsten Liebesakt in Sachen unserer gewachsenen europäischen Kultur“, die es heute im „Kampf der Kulturen“ zu verteidigen gilt. Der Mitbegründer der Akademie Herrnhut für politische und kulturelle Bildung unternimmt einen Exkurs sowohl in eintausend Jahre Geschichte als auch in die jüngere Vergangenheit. Im Vorgehen Putins in der Ukraine erkennt er das der Bolschewiki unter Lenin wieder, 1917 in Rußland.

Beklemmende Aktualität entfaltet auch ein zwanzig Jahre alter Text des Kulturwissenschaftlers und Osteuropahistorikers Karl Schlögel, damals geschrieben als Vorwort zur Neuausgabe der russischen Geistes- und Religionsgeschichte des Tschechen Tomas G. Masaryk. Karl Schlögel erinnert an das europäische Rußland jener Zeit, „als das alte Europa noch ein Ganzes war“, und skizziert die Ursachen für die „Pathologien sowjetrussischer Modernisierung“. Er mahnt dringend, die historische Kommunikation zwischen dem geistigen Westeuropa und dem geistigen Osteuropa wieder zu beleben, den Anschluß zu finden an einen Diskussionsstand, der schon einmal erreicht war: „Rußlands Weg im 20. Jahrhundert ist ein extrem europäischer Weg, der sich nicht post festum exterritorialisieren läßt. Nie zuvor war die russische Geschichte mehr mit der europäischen verstrickt.“

Der Offene Brief des ukrainischen Schriftstellers Juri Andruchowicz vom 23. Januar 2014 erinnert noch einmal an die Proteste auf dem Majdan, an die Motive und die Hoffnungen der Demonstranten.

Ein detailliertes Meinungsbild der polnischen Gesellschaft zur Ukraine zeichnet die Analyse des Warschauer Politikwissenschaftlers Łukasz Wenerski. Interessant sind die Unterschiede zur gegenwärtig „gefühlten“ Stimmungslage in Deutschland in Bezug auf die Ukraine, worüber hier freilich keine fundierten Aussagen vorliegen. In den bereits angesprochenen Internetforen ist jedenfalls auch eine Zunahme antipolnischer Ressentiments festzustellen. Silesia Nova dankt dem Deutschen Polen-Institut für die Erlaubnis zur Veröffentlichung der Analyse.

Eine erfreuliche Bilanz der zehnjährigen Zugehörigkeit Polens zur Europäischen Union kann unser Mitherausgeber Krzysztof Ruchniewicz, Direktor des Willi-Brandt-Zentrums der Universität Wrocław, ziehen. Dieser Blick auf die EU wird, bei allen Problemen, auch von der Mehrheit der polnischen Bevölkerung geteilt. Ein attraktives Modell für die eigene Zukunft, so erleben es eben auch die Nachbarn in der Westukraine, fern aller Propaganda.

Mit dem „außengeleiteten“ und „innengeleiteten“ Menschen im 20. Jahrhundert befaßt sich der in Rumänien gebürtige Görlitzer Soziologe Anton Sterbling anhand des Romans „Die Schlafwandler“ von Hermann Broch: „Am Ende ist die Frage – mit Blick auf unsere Gegenwart und insbesondere auf den Osten Europas – doch einigermaßen beklemmend, ob wir weiterhin ‚Schlafwandler‘ sind […].“

 

Diese Ausgabe der Silesia Nova hätte bereits im März erscheinen sollen und erreicht Sie nun erst im Mai. Wir bitten dafür um Entschuldigung. Die Ereignisse in der Ukraine hier zu ignorieren, erschien uns undenkbar. Fundierte Beiträge zu bekommen, die über eine aktuelle Darstellung der dramatischen Vorgänge hinausgehen, war aber auch nicht so schnell möglich. Die nächste Ausgabe erscheint pünktlich Ende Juni.

Selbstverständlich bekommen Sie auch mit diesem Heft wieder lesenswerte Beiträge zur schlesischen Kulturgeschichte und Empfehlungen für die Begegnung mit Land und Leuten zwischen Oder und Neiße. Hier ist zuerst die in drei Städten – Görlitz, Breslau und Liegnitz – präsentierte Ausstellung über den „Adel in Schlesien und in der Oberlausitz“ zu nennen. Ein lange vernachlässigtes Thema, das spannende Unterhaltung verspricht. Die Ausstellungsstädte liegen ja an einer Bahnlinie, die sie mit der Oberlausitz und Dresden verbindet und auf der polnischen Seite gleich durch zwei Unternehmen gut bedient wird. Das sollten wir uns erhalten, indem wir sie nutzen.

Auf Reisen war auch wieder der Breslauer Literaturhistoriker Jan Pacholski, diesmal im Waldenburger Land, auf den Spuren des Schriftstellers Paul Keller. Seine Studenten hatten eine überraschende Begegnung mit dem alten Schlesier, als sie im Kinosaal von Wüstewaldorf (Walim) die Literaturverfilmung „Waldwinter“ sahen: für die jungen Leute der erste Liebesfilm, bei dem das Paar die ganze Zeit über angekleidet bleibt.

Von Breslau und Liegnitz über China, München und Karatschi bis nach Rom führte sein Lebensweg den Politiker und Diplomaten Wolfgang Jaenicke. Mit dessen Biographie und Lebenswerk hat sich unser Autor Joachim Rott beschäftigt.

Am 24. April, einen Tag nach dem Welttag des Buches, starb Tadeusz Różewicz. Im Gedenken an den großen Poeten ist in diesem Heft noch einmal das Interview mit ihm zu lesen, das wir im Heft 3/2006 bereits veröffentlichen durften. Die Nachricht vom Tod des Dichters war die erste, die mir an jenem Tag Freunde in Breslau mitteilten. Stunden später wurde am Rynek eine Ausstellung von über 30 sächsischen Verlagen eröffnet. Unser Mitherausgeber Thomas Maruck begann seinen literarischen Stadtrundgang mit Worten Różewiczs.

Es spricht für die Europäische Kulturhauptstadt 2016, daß die kleine Buchmesse in der „sächsischen Botschaft“ am Rynek sehr gut besucht wurde. Nächste Station ist Oppeln (Opole).

Ich wünsche Ihnen anregende Lektüre, Detlef Krell

ISBN 978-3-86276-121-0 / 148 S. / EUR 12,00