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SILESIA NOVA 2/2015

Detlef Krell: Editorial

Krzysztof Ruchniewicz: 1945 – der „bittere Sieg“. Polen und die Befreiung

Andrzej Zawada: Poniemiecko??. Anwesenheit eines Abwesenden

Susanne Peters-Schildgen: HEIMAT.FRONT. Oberschlesien und der Erste Weltkrieg. Ausstellung im Oberschlesischen Landesmuseum

Silke Findeisen: Der Weg ins Ungewisse. Vertreibung von und nach Schlesien 1945–1947. Ein Ausstellungsprojekt von HAUS SCHLESIEN in Kooperation mit den Museen in Glogau und Neisse

Joachim Rott: Pastor, Preuße und Politiker mit schlesischen Wurzeln. Zum 100. Geburtstag von Heinrich Albertz (1915–1993)

„Hier stehe ich und kann nicht anders“. Utz Rachowski im Gespräch mit Krzysztof Ruchniewicz und Marek Zybura

Henk J. Koning: „[…] eine durchaus edle, höchst geistvolle und gebildete Frau“. Julie von Holtei, geb. Holzbecher (1809–1838), Schauspielerin und zweite Gattin Karl von Holteis

Kinga Oworuszko: Wandernd durch das Eierland. Das Riesengebirge im Spiegel der Schlesischen Provinzialblätter

Agnieszka Dylewska: Das Bild der schlesischen „Mikroprovinz“ in literarischen Texten des Grünberger Hauskalenders

Ernst Josef Krzywon: Gedichte

Bernadett Fischer: Unterwegs in der Kulturregion Schlesien

Editorial

Liebe Leserinnen und Leser,
Kartoffel ist das schönste deutsche Wort, meint Matylda. Sebastian entschied sich für Murmeltier, Laura für malen. Auch Kindheit, Freundschaft, Marienkäfer und Heringsbrötchen wurden von polnischen Kindern beim polenweiten Ausscheid über das schönste deutsche Wort ausgewählt. Urszula mag besonders das Streichholzschächtelchen – „ein schweres, schwirrendes und knisterndes Wort mit zu vielen Buchstaben. Dieses Wort ist einfach schön.“ Unter den Studenten und Berufstätigen, die daran teilgenommen haben, fanden Vergissmeinnicht – ein Wort „wie ein Gedicht“ –, Dingsbums, Zweisamkeit und das vielseitige „doch“ besonderes Gefallen; doch Erica entschied sich für die Enttäuschung.

Initiiert und betreut wurde dieser Wettbewerb durch den Deutschen Akademischen Austauschdienst, das Deutsche Generalkonsulat in Breslau, die Universität Breslau, durch das Goethe-Institut, das Institut für Auslandsbeziehungen und die Deutsche Sozial-Kulturelle Gesellschaft in Breslau. Viele Partner für eine polnische Liebeserklärung an die deutsche Sprache. Eine Jury aus Breslauer Germanistikstudenten hat die interessantesten Begründungen ausgewählt, am 25. September werden die Sieger zu einem Empfang im Deutschen Generalkonsulat in Breslau eingeladen.

Eines der kompliziertesten polnischen Wörter ist poniemiecko??. Ein nicht übersetzbares weibliches Substantiv, das im Wörterbuch der polnischen Sprache nicht enthalten ist. Dieses Kunstwort erfaßt sowohl unersetzbar als auch unscharf höchst komplexe gesellschaftliche und kulturelle Prozesse in Polen während und nach der deutschen Besatzung im Zweiten Weltkrieg. Es bezeichnet ein kulturelles Phänomen, das fortdauert, aber grundlegenden Wandlungen ausgesetzt ist. Der Breslauer Literaturwissenschaftler und Silesia-Nova-Herausgeber Andrzej Zawada geht in seinem Essay „Poniemiecko??“ dieser komplexen Erscheinung auf den Grund und gelangt zu einem überraschenden Fazit.

Unter der Kategorie „poniemiecko??“ läßt sich auch der Beitrag des Breslauer Historikers und Silesia-Nova-Herausgebers Krzysztof Ruchniewicz lesen. Er analysiert den „bitteren Sieg“ Polens über die nationalsozialistische Terrorherrschaft und das zwiespältige Verhältnis Polens zu dieser Befreiung, die mit dem Verlust der Gebiete im Osten einherging und der Jahrzehnte unter sowjetischer Herrschaft folgten.

Joachim Rott würdigt zu dessen 100. Geburtstag das Wirken des Breslauers Heinrich Albertz – als Pastor der Bekennenden Kirche während der NS-Zeit in Breslau und Oberschlesien, Flüchtlingspfarrer in Celle, SPD-Mitglied und Minister im niedersächsischen Kabinett, Vertrauter Willy Brandts und Regierender Bürgermeister von Berlin, schließlich Aktivist der Friedensbewegung und zeitlebens seiner Geburtsstadt eng verbundener Schlesier.

Der im sächsischen Vogtland lebende Dichter Utz Rachowski geriet mit dem Arbeiter- und Bauern-Staat erstmals im Alter von 17 Jahren aneinander, als er mit Freunden einen Philosophieclub gründete. Als er Texte von Wolf Biermann, Jürgen Fuchs, Reiner Kunze und Gerulf Pannach verbreitete, wurde er eingesperrt, 1980 ausgebürgert. Im Frühjahr verbrachte er längere Zeit in Breslau, dort sprachen mit ihm Krzysztof Ruchniewicz und Marek Zybura unter anderem über die polnischen Wurzeln des Dichters und dessen Verhältnis zur polnischen Kultur.

Ein weiteres Kapitel schlesischer Pressegeschichte öffnet die Breslauer Doktorandin Kinga Oworuszko mit ihrem Exkurs ins Riesengebirge auf den Magazinseiten der Schlesischen Provinzialblätter. Die Grünberger Literaturwissenschaftlerin Agnieszka Dylewska entdeckt das Bild der „schlesischen Mikroprovinz“ in literarischen Texten des Grünberger Hauskalenders in den Jahren 1918 bis 1941.

Übrigens ist ja auch Eisenbahn ein schönes deutsches Wort. Daß es von den jungen Preisträgern nicht ausgewählt wurde, soll hier nicht überinterpretiert werden. Aber vielleicht liegt es doch auch daran, daß es sich in der deutsch-polnischen Nachbarschaft nicht eben aufdrängt. Nicht so wie Vergissmeinnicht, bei dem sich Agnieszka an einen blauäugigen Jungen erinnert fühlt, dem sie in Dresden begegnet ist. Wenn sie ihn jetzt mit der Eisenbahn besuchen wollte, wäre sie von Breslau aus fast 7 Stunden unterwegs, mindestens.

Ich wünsche Ihnen eine anregende Zeit mit Silesia Nova, Detlef Krell

ISBN 978-3-86276-168-5 / 140 S. / EUR 12,00