Ältere Ausgaben

SILESIA NOVA 3/2014

Inhalt

Detlef Krell: Editorial

Hans-Christian Trepte: Der Warschauer Aufstand (1944) und die verlorene „Kolumbus-Generation“

Bernadett Fischer: Eine Zukunft denken. Der Kreisauer Kreis – Neuordnung im Widerstand gegen den Nationalsozialismus. Sonderausstellung im HAUS SCHLESIEN

Monika Taubitz: Weltbürger aus Lemberg, Gleiwitz und Krakau. Der Wangener Kreis ehrt den polnischen Dichter Adam Zagajewski mit dem Eichendorff-Literaturpreis

Michael Krüger: "Auch ich verstehe meine Gedichte nicht ganz." Laudatio auf den Eichendorff-Literaturpreisträger Adam Zagajewski

Henk J. Koning: Hätte Kleist dieses Käthchen nur einmal gesehen …. Luise von Holtei, geb. Rogée (1800–1825), Schauspielerin und erste Gattin Karl von Holteis

Henk J. Koning: „Das Buch ist eine entschiedene Verirrung“. Karl von Holteis Kriminalroman „Schwarzwaldau“

Edyta Gorząd: Der Berggeist in Richard Kühnaus Werk „Schlesische Sagen“

Jutta Radczewski-Helbig: „Das Rosenhäusel. Eine Erzählung aus dem Riesengebirge“ oder Wirklichkeit und Fiktion bei Else Ury (1877–1943)

Sandra Seidel: Kleine Heimat und ihre sprachliche Polyphonie: eine vierstimmige Rückblende

Detlef Krell: Leben, das große Geheimnis. Die pommersche Schriftstellerin Clara von Sydow (1854–1928) und ihr Roman „Einsamkeiten“

Clara von Sydow: Einsamkeiten. Roman (Auszug)

Clara von Sydow: Abendlied (Gedicht)

Katharina Weise: Weil … / Nachttrost / Aus der Werkstatt (Gedichte)

Wer ich bin. Bohumil Hrabal: Schriftsteller – Tscheche – Mitteleuropäer. Ausstellung im Literaturhaus Berlin

„Von der Kleinen Hexe und dem Räuber Hotzenplotz“. Sonderausstellung im Oberschlesischen Landesmuseum Ratingen

Editorial

Und siegreich strahlt der Sowjetstern.
Mit brennenden Fackeln ein menschliches Hakenkreuz haben sie geformt, die Schwarzmaskierten. Sind marschiert auf der Bühne mit martialischen Gesängen. In Panzern umhergefahren unter der wehenden ukrainischen Fahne. Bühnengroße Hände erschienen, die das Dollarzeichen trugen, wollten das Land sich greifen. Doch dann. Berkut-Milizen erschienen, die Waffen in Anschlag. Der Sturm des Volkes brach sich Bahn. Zerschlagen, vernichtet, endbesiegt wird der faschistische Spuk. Weit aufgerissene Augen atemlos zuschauender Kinder. Ein Mensch, maskiert, wurde stranguliert von Maskierten. Dröhnende Klänge, Schlachtgeräusch. Und endlich. Die Flagge Neurußlands entfaltete sich, weht nun über den Siegern und dem befreiten Land. Es erklingt die Nationalhymne der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken. Und siegreich strahlt der Sowjetstern.
Russische Staatspropaganda im Jahr 2014. Diese Inszenierung unter der Regie der „Nachtwölfe“ – der größten Motorradgang Rußlands, die unter dem Befehl von Alexander Saldostanov agiert, einem engen Freund Wladimir Putins – wurde am 9. August in Sewastopol auf der russisch annektierten Krim aufgeführt, vor 100.000 Zuschauern, und live im russischen Staatsfernsehen Rossia 2 übertragen.
„Wir haben vergessen, daß die Russen keine Neigung haben, Regeln anzunehmen, sie wollen Regeln setzen“, erklärte der finnische Ministerpräsident Alexander Stubb in einem Interview (F.A.Z., 1.10.14). Putins Schlachtplan für die Invasion der Ukraine gab es bereits Anfang 2013. Die Rede des russischen Generalstabschefs Walerij Gerassimov vor der Jahresversammlung der Russischen Akademie für Militärwissenschaft war nicht einmal geheim, sie wurde auf der Webseite der Akademie veröffentlicht. Nur gelesen hatte sie im Westen offenbar keiner. Der General entwarf darin das „ungewohnte Muster“ künftiger Kriege, nach dem ein „blühender Staat in wenigen Monaten oder sogar Tagen in eine Arena für erbitterte bewaffnete Auseinandersetzungen verwandelt werden kann“ (F.A.Z., 7.9.2014). Genau das erleben wir seit der Krim-Annexion: durch emblemlose, straff organisierte Guerillakrieger, oder wie Putin gegenüber der Weltpresse höhnte, als es sich nicht mehr bestreiten ließ, daß es Russen sind, durch „Soldaten im Urlaub“.
Der ukrainische Schriftsteller Jurij Andruchowicz gestand in einem Interview mit der Sächsischen Zeitung (20.9.14) sein Unverständnis darüber, daß es „vonseiten der Deutschen, die Putins Vorgehen ablehnen, keine öffentlichen Proteste gibt. Diese Gleichgültigkeit, dieses Schweigen und Sich-Abfinden mit den Tatsachen, die Putin schafft, auch wenn er gegen internationales Recht verstößt, wundert mich sehr.“ In diesen Tagen gedenken wir des 25. Jahrestages der friedlichen Revolution in der DDR. Wie damals die Deutschen in der DDR, haben auch die Ukrainer das Recht, sich ihr Leben in Freiheit zu gestalten. Dabei ist es „nicht relevant“, wie Andruchowicz betont, „ob es Wladimir Putin gefällt, daß wir wie jedes andere freie und souveräne Land Europas selbst entscheiden, mit wem wir Bündnisse eingehen oder Abkommen schließen“. Diesem Verständnis von Demokratie hat Putin den Krieg erklärt.


Liebe Leserinnen und Leser,
am 1. August jährte sich zum 70. Mal der Warschauer Aufstand der polnischen Heimatarmee und weiterer Untergrundorganisationen gegen die deutschen Besatzer. Zur Eröffnung einer Ausstellung über dieses herausragende Ereignis europäischer Geschichte erklärte Bundespräsident Gauck an der Seite seines polnischen Amtskollegen Komorowski: „Das ist für mich die wichtigste Errungenschaft nach einem blutigen Jahrhundert mit zwei Weltkriegen und totalitären Regimen: Dieses gemeinsame Haus Europa, es beruht auf der Achtung der Würde des Menschen und auf dem Respekt vor dem Anderen. Ein Europa, das es wert ist, mit Leben erfüllt und immer wieder neu begründet, aber auch immer wieder verteidigt zu werden, wenn dies notwendig ist.“
Die Darstellung des Warschauer Aufstandes und der „Kolumbus-Generation“ der Aufständischen brachte „eine sowohl stark dokumentarisch geprägte als auch deutlich fiktionale Züge tragende schöngeistige Literatur“ hervor, stellt der Leipziger Polonist Hans-Christian Trepte in diesem Heft fest, „die erneut bewies, daß ein charakteristisches Merkmal polnischer Literatur ihre spezifische historische Determiniertheit ist“.
Zu den Erinnerungen in diesen Tagen gehört die „Messe der Versöhnung“ vor 25 Jahren, am 12. November 1989, drei Tage nach dem Fall der Berliner Mauer. In Kreisau /Krzyżowa, dem Tagungsort des Kreisauer Kreises, der zwischen 1942 und 1944 als Widerstandsgruppe gegen das nationalsozialistische Regime die Grundzüge eines demokratischen Deutschlands in einem freien Europa entworfen hatte, begegneten einander der polnische Premier Tadeusz Mazowiecki und der deutsche Bundeskanzler Helmut Kohl. Diese Messe geriet zum symbolischen Akt der Überwindung der Teilung Europas und einer neuen Ära der deutsch-polnischen Beziehungen. Eine Ausstellung im Haus Schlesien in Königswinter erinnert an das Wirken des Kreisauer Kreises und präsentiert das neue Kreisau/Krzyżowa als internationale Jugendbegegnungsstätte.


Drei Frauen stehen im Mittelpunkt dieser Ausgabe. Gemeinsam ist ihnen, daß sie im 19. Jahrhundert geboren wurden und ihr Leben voller Leidenschaft für die Kunst führten, in der Provinz und in der Metropole, und daß ihnen das Etikett des „Trivialen“ anhängt, wo sie noch nicht ganz vergessen sind.
Dem kurzen Leben der damals gefeierten Schauspielerin Luise von Holtei, der ersten Ehefrau des schlesischen Dichters und Theaterdirektors Karl von Holtei, ist unser niederländischer Autor Henk J. Koning nachgespürt. Sie war das „naive Mädchen“, die Kindfrau auf den Bühnen von Grafenort, Breslau, Wien und Berlin; daß sie auch in ihrer Kunst zur Frau reifen durfte, verhinderte ihr früher Tod.
Else Ury ist noch immer vor allem als die Autorin der braven Nesthäkchen-Bücher bekannt. Die gebürtige Berlinerin war schwärmerischer Riesengebirgsgast, sie war Jüdin, deutsche Patriotin, Lieblingsschriftstellerin der Mädchen in der Zeit der Weimarer Republik. Von den Nationalsozialisten wurde Else Ury in Auschwitz ermordet, am 12. Januar 1943. Die Literaturwissenschaftlerin Jutta Radczewski-Helbig hat die Riesengebirgserzählung von 1930, „Das Rosenhäusel“, gelesen und die Autorin darin zwischen Wirklichkeit und Fiktion wiederentdeckt. Erstmals nach über 80 Jahren wird „Das Rosenhäusel“ von Else Ury im Herbst im Neisse Verlag in einer Neuausgabe erscheinen und wieder Leser, nicht nur Sammler bibliophiler Raritäten, erreichen. Im nächsten Jahr folgt dann übrigens die noch ältere Riesengebirgserzählung Else Urys, „Hänschen Tunichtgut“.
Die pommersche Schriftstellerin Clara von Sydow wurde in Stettin geboren, sie ist im Norden der Insel Rügen aufgewachsen und hat in Berlin als Lehrerin gearbeitet. Mit ihrem im Jahr 1911 erschienenen Roman Einsamkeiten betrat sie die Schwelle zur literarischen Moderne. Nur eine Handvoll öffentlicher Bibliotheken besitzt dieses Buch. Im Zeitalter digitaler Kommunikation, das den rauschhaften Zauberglauben erzeugt, jeder Text, jedes Bild, jede Musik sei irgendwie jederzeit verfügbar, drohte ein literarisches Lebenswerk zu verschwinden. „Einsamkeiten“, Clara von Sydows reifstes Buch, das in diesem
Heft unter der Rubrik „In einem Zug gelesen – Literarische Reisen“ vorgestellt wird, eröffnet eine Werkausgabe der wiederzuentdeckenden Schriftstellerin im Neisse Verlag.
Monika Taubitz berichtet in diesem Heft über die 64. Wangener Gespräche, zu denen sich im September die Schriftsteller und Künstler des Wangener Kreises – Gesellschaft für Literatur und Kunst Der Osten – in der Stadt am Bodensee trafen. Diesjähriger Träger des Eichendorff-Literaturpreises ist der polnische Dichter und Essayist Adam Zagajewski. Silesia Nova freut sich, die Laudatio des Schriftstellers und Verlegers Michael Krüger, Präsident der Bayerischen Akademie der Schönen Künste, veröffentlichen zu können.

Vor 10 Jahren, im Oktober 2004, erschien das erste Heft der „Silesia Nova“. Zu seinen Autoren gehören Ines Eifler, Hans-Jochim Hahn, Antje Johanning, Wolf-Dieter Krüger, Anna Ptak, Anna Stroka, Olga Tokarczuk, Tobias Weger. Neben dem Kreis der Herausgeber sind das Institut für Germanistik der Universität Wrocław und das Willy-Brandt-Zentrum der Universität Wrocław dem Heft in vielfältiger Weise partnerschaftlich verbunden. Für die Zusammenarbeit, aus der auch Freundschaften gewachsen sind, möchte ich mich an dieser Stelle herzlich bedanken.

Ich wünsche Ihnen unterhaltsame Lektüre, Detlef Krell

ISBN 978-3-86276-141-8 / 144 S. / EUR 12,00