Lutherbibliothek

Der "falsche" Luther

500 Jahre Luther-Rezeption sind auch 500 Jahre literarische Bildproduktion: der Reformator erscheint nicht nur in der Graphik, auf Tafelbildern oder als Skulptur, sondern auch als Dramen-, Roman-, Comicoder Filmfigur. Eine umfassende Dokumentation der vielfältigen literarischen bzw. bildkünstlerischen Transformationen der historischen Person Luthers stand bislang aus.

Die Lutherbibliothek 2017 unternimmt es nun, die unterschiedlichen Formen der theologischen, philosophischen oder biographischen Imagotype des Reformators synoptisch zusammenzuführen.

Es geht gerade nicht um den „wahren“, sondern ganz bewusst um den immer wieder gefälschten, verzerrten oder verteufelten, aber auch den idealisierten, überzeichneten, mystifizierten oder verklärten, den monumentalen, neurotischen, fanatischen, sentimentalen und fragilen – stets aber den mit verbalen oder visuellen Mitteln ideologisierten und politisch instrumentalisierten Luther.

Keiner der aktiven Mitstreiter oder der ebenso aktiven Gegner hat die Popularität Luthers durch die Jahrhunderte erreicht und behalten. Das ist ein Phänomen sondergleichen.

Die dogmatisch-kirchengeschichtliche Diskussion entwickelte eine andere interne Linie als die volkstümliche – schon seit etwa 1520. Viele theologisch-dogmatisch nicht versierte Zeitgenossen griffen zur Feder und sprachen pro und contra Luther ihre Vorstellungen, Gedanken, Befürchtungen und Hoffnungen aus. So bildete sich eine literarische Luther-Figur heraus, die zum Teil sehr weit weg von der historischen Person Luthers in Wittenberg war.

Immer wieder sind es die jeweils aktuellen Interessen späterer Zeiten, die eine teleologisch gewünschte Veränderung irgendwo im diffusen Raum des Vergangenen „verorten“ wollen und sie dann mit einer zwingenden „Einsicht“ oder schlagenden Begrifflichkeit versehen. Bilder, Selbstbilder wie Fremdbilder, sind wörtlich als eine „Verschlagwortung“ von Geschichte zu verstehen. Es bedarf „schlagender“ Begriffe, die den jeweiligen Adressaten zumindest „mundtot“ machen. Aby Warburg postulierte folgerichtig auch das „Schlagbild“, das er bezeichnenderweise aus der Betrachtung der polemischen Flugschriftenliteratur des 16. Jahrhunderts gewann.

Bereits die Luther-Dekade 2008–2017 bietet mit ihrer geradezu hemmungslosen Bildproduktion vom Playmobil-Doktor bis zum „Ersten Wutbürger“ (Der Spiegel) ein weites Betrachtungsfeld.

Das Prinzip der historischen Imagotypen basiert auf der Verengung und Isolierung von Einzelmerkmalen, aber auch auf der parteigebundenen Zuschreibung von nicht oder nicht genügend vorhandener Substanz. Es geht im Laufe der Jahrhunderte um die produktive Konstitution einer Referenzfigur, die nicht als Zeuge ihrer vergangenen Zeit, sondern als Bürge für eine beliebige Position einer jeweils neuen Zeit auftreten soll. Entsprechende Figurationen resultieren aus einer nachträglichen und damit zeitfremden Visualisierung eines zumeist auch postum geprägten Begriffs. Sie erscheint als rückprojizierte Verkörperung eigener Ideen, Ängste und Wünsche, im Versuch, eine historische Rechtfertigungsadresse, eine Patronage für eigene Positionen aufzubieten. Genau diese Form der diachronischen Synthese einer literarischen Verbildlichung lässt sich im Falle Luthers in unvergleichlicher Weise vorführen.

Zur Präsentationsform der Lutherbibliothek 2017

Das umfangreiche Projekt bietet in sechs Reihen zahlreiche Originaltexte und Bilder bzw. Auszüge mit fachkundiger Kommentierung und eingehenden Analysen, die auch einem historisch weniger
versierten Leser den Zugang zu den einzigartigen Dokumenten ermöglichen. Werke, die bis zum Ende des 19. Jahrhunderts erschienen sind, werden in Reprints vorgelegt; kleinere Texte, handschriftliche Vorlagen, moderne Übersetzungen und editorische Beigaben (Erläuterungen, Nachworte, Bibliographien) erscheinen im Neusatz. Aufbereitet werden historische Dialoge, Dramen, Romane, Oden, Oratorien, Festschriften und Flugblätter, in denen Luther als Figur auftritt. Die Lutherbibliothek 2017 erweist sich damit als ein differenziertes und kritisches Gedächtnismedium, das gerade die Metamorphosen des jahrhundertweise „reproduzierten“ Luthers zeigt – ein anregendes Informations- wie Diskussionsportal, nicht nur für eine akademische Öffentlichkeit.

Die Konfigurationen, Projektionen und Imaginationen setzen systematisch bereits bei der Frage an, wo der Reformator als initiierendes Subjekt von der Reformation, die sich als historischer Vorgang unter Beteiligung vieler vollzog, zu trennen ist. Luther ist semantisch nicht gleichzusetzen mit „der Reformation“ als einer vielköpfigen frühneuzeitlichen Gesellschaftsbewegung.

Für das 16. Jahrhundert ist vorgesehen, in sechs Bänden Luther in der populären Kritik seiner Zeit zu zeigen, und zwar im Abdruck von Thomas Murners „Lutherischem Narren“ und in aufschlussreichen Darstellungen der Luther-Figur in Theaterstücken und in Flugschriften. Ergänzend hierzu werden die zeitgenössischen Gedenkschriften, die Luther nach seinem Tode würdigen, und die erste umfangreiche
Luther-Biographie von Johannes Mathesius (1565) vorgelegt.

Über die Luther-Rezeption im 17. Jahrhundert ist weniger bekannt, weil die diesbezüglichen Texte editorisch entweder nicht erschlossen oder zugänglich sind, das wenige Vorhandene ist für die wissenschaftliche Beschäftigung historisch weitgehend unergiebig. Aber die Präsentation von Dokumenten aus dieser Zeit wird ein neues Licht auf Luther und seine Bedeutung für die gesellschaftlichen und theologischen Diskurse der Zeit (Dreißigjähriger Krieg, Absolutismus, Merkantilismus) werfen. Es wird eine Auswahl exemplarischer Werke getroffen: Luther in der Memorialliteratur, im Drama und in der Konfessionspolemik.

Das 18. Jahrhundert zeigt wiederum ein verändertes Bild: zwar waren auch hier, im Zeitalter von Rationalismus, Deismus und schließlich Spinozismus die Auseinandersetzungen über Religion und Glaube zahlreich, es gibt jedoch – anders als später im 19. Jahrhundert – nur wenige literarische Dokumente, die sich des Reformators als Person widmen. Dies gilt sogar für die im Rahmen der Lutherjubiläen in den Jahren 1717 und 1783 erschienenen Publikationen. Hier ging es ebenfalls weniger um die Person des Konfessions-„Gründers“, als um die durch seine Aktivitäten initiierten theologischen Veränderungen. Allein einige Lebensbeschreibungen im Geiste des 17. Jahrhunderts, einzelne satirische Schriften und Oden zeigen ein Interesse an der Person Luther und ihrem Umfeld. Vor der großangelegten Etablierung der Gestalt im 19. Jahrhundert stellen diese wenigen Schriften die Brücke zwischen dem 17. und dem 19. Jahrhundert dar und sollen exemplarisch in den Blick genommen werden.

Das 19. Jahrhundert zeichnet sich nun durch eine unvergleichliche Fülle von Luther-Literatur aus, deren Produktion und Rezeption durch fünf Faktoren bestimmt ist: historisch durch die napoleonische Besetzung und die Freiheitskriege zu Beginn des Jahrhunderts sowie durch den heftigen sog. Kulturkampf der Konfessionen und die Reichsgründung 1871, historisch-biographisch durch die Lutherfeiern 1817 (300 Jahre Thesenanschlag) und 1883 (400. Geburtstag) und schließlich literarhistorisch durch das Aufkommen des historischen Romans in der Mitte des Jahrhunderts.

Diese Faktoren verstärken sich gegenseitig und bewirken vor allem in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts die Ausbildung konkurrierender Lutherbilder, die öffentlich kontrovers diskutiert werden. Für die Auswahl der zu edierenden Texte bedeutet dies die Berücksichtigung der Gattungen (Drama, Roman, Oden, Gedichte, Oratorien, Festspiele), der ideologischen Zuschreibungen, der Popularität (Auflagenhöhe, Theaterinszenierungen), der öffentlichen Auseinandersetzungen (Streitschriften, Dokumentationen). Vor allem ist es die agitatorische Historienmalerei des 19. Jahrhunderts, die eine wirkungsorientierte Inszenierung einer namhaften historischen Physiognomie betreibt, mit der bildszenischen und psychologisierenden Auszeichnung des in Schlüsselmomenten handelnden Reformators.

Im Blick auf ein „langes“ 20. Jahrhundert erscheint die Luther-Rezeption hier zwischen dem preußisch-deutschen Kulturkampf des späten 19. Jahrhunderts und den globalen Konflikten nach 9/11. Schon hier zeigt sich das spezifische Problem der Internationalisierung bzw. der multidisziplinären Funktionalisierung der Figur Luthers in religiösen, wirtschaftlichen, sozialen und politischen Streitfragen der Moderne, die in der Person Martin Luther Kings sogar Züge einer programmatischen Selbstetikettierung annimmt.

Vor dem Hintergrund der philosophischen und theologischen Diskurse, die in affirmativer, apologetischer oder kontroverser Schlagkraft jeweils ihr eigenes folgenreiches Lutherbild positionieren, gewinnen diese abstrakten Figurationen eine wirkungsmächtige Evidenz in der Imagination durch die stille Lektüre oder die drastische Präsentation auf der Theaterbühne, aber auch im Drehbuch, Essay, Witz-, Beratungs-, Kinder- und Jugendbuch. Sinnvoll erscheint es deshalb, hier den politischen Zäsuren zu folgen und die Lutherbilder zwischen 1890 und 1914, 1914 und 1945, 1945 und 1990, 1990 und
2017 vorzustellen.

Protestantische und katholische, konservative und progressive, metaphysische und materialistische, aber eben auch transnationalisierte oder weitgehend entideologisierte bzw. ausschließlich emotionalisierte („Historischer“ Unterhaltungsroman und „Stapelware“ nach 2000) Phänotypen geben ersten Anhalt für eine systematische Ordnung.

Zwei Aspekte markieren eine Besonderheit der Reihe 5: da noch nicht alle Texte gemeinfrei sind, verhindern urheberrechtliche Gründe eine editorische Publikation in vollem Umfang. Hinzu kommt eine generelle Verfügbarkeit der Texte, die in großer Mehrzahl aufgrund hoher Auflagen bzw. aktuell geringer Nachfrage ohne zeitlichen und finanziellen Aufwand über Bibliotheken bzw. digitale Dienstleistungen leicht zu erhalten sind. Ferner liegen bereits leicht zugängliche Neudrucke vor, mehr als 70 Prozent der Texte (vor allem von Stefan Zweig, Stefan Heym u.a.) sind über den Buchhandel bequem und preislich günstig zu beziehen. Das hat im Vergleich mit den Reihen 1–4 entsprechende Folgen für die Konzeption: Als Volltext im Sinne einer Werkedition können keine Beispiele gegeben werden. Die Aufbereitung der Materialien ist jeweils nach den Grundsätzen einer repräsentativen Textanalyse erfolgt, die neben textimmanenten Problemen vor allem aussagekräftige Querverweise zu den literarischen, theologischen und philosophischen Kontexten aufweist. Die jeweilige Verfügbarkeit der Volltexte (Standorte, web-links) wird anzeigt.