Sprach-, Literatur- und Kulturwissenschaft

Matthias Freise, Grzegorz Kowal (Hg.)

Die mythische Zeit der Moderne

Mythoskritik und Mythosapotheose stehen in einem Spannungsverhältnis, und dieses Spannungsverhältnis wurde in der Moderne auf die Spitze getrieben. So steht zum Beispiel in der Avantgarde dem Kult des prärationalen unmittelbaren Erlebens der Form und der sinnlichen Präsenz der Wirklichkeit eine elaborierte theoretische und damit eben rationale Unterfütterung eben dieses Erlebens in der Form von Manifesten, Programmen, philosophischen Erklärungen und Herleitungen gegenüber. Insgesamt wird der Diskurs über den Mythos in höchst rationaler Weise geführt. Damit befindet sich Wissenschaft in Bezug auf die mythischen Qualitäten der Moderne in einer paradoxen Situation. Verliert das Beschreibungsobjekt nicht durch seine Beschreibung gerade die Qualität, die für es konstitutiv ist? Insofern erscheint der von Nietzsche und Heidegger gewählte Weg, den eigenen Diskurs zu poetisieren und damit zu mythologisieren, nicht paradox, sondern geradezu unabdingbar – wie sonst sollte begreifbar gemacht werden, was sich per definitionem den rationalen Diskurs entzieht?

Die interdisziplinäre wissenschaftliche Tagung, die in Kooperation der Universitäten Wroclaw und Göttingen von 14. bis 15. Mai 2015 an der Universität Wroclaw stattfand, verortete sich genau in diesem Spannungsfeld. Strukturell trafen sich Mythoskritik, Mythosverstehen, Kritik der Mythoskritik und Verstehen des Mythosverstehens, thematisch begegneten sich literaturwissenschaftliche, historische und philosophische Zugänge. Dies schuf eine kreative, weil hoch reaktive Mischung, deren atmosphärische Präsenz – da eben auch wieder von mythischem Charakter – die schriftliche Präsentation der Beiträge nur unvollkommen wiederzugeben vermag. Aber vielleicht lässt die serielle Lektüre der natürlich auch jeder für sich äußerst lesenswerten Beiträge doch eine Ahnung davon entstehen, dass hier ein gegenseitiges Anregungspotential gegeben war, ein hoch aufgeladener intellektueller Plattenkondensator, dessen schriftliche Entladung Dr. Grzegorz Kowal und ich im vorliegenden Sammelband der interessierten Öffentlichkeit vorlegen möchten.

Matthias Freise (aus dem Vorwort)

Inhalt

Vorwort
Bozena Anna Badura (Universität Duisburg-Essen): Das eigene Fremde und das fremde Eigene. Die Literarisierung nationaler Stereotype in der deutschen Gegenwartsliteratur

Edward Bialek (Uniwersytet Wroclawski): Die Abkehr vom Mythos – die Rückkehr zum Mythos. Gerhart Hauptmanns Werk in der Weimarer Republik aus regionaler Perspektive am Beispiel der Schweidnitzer Zeitschrift „Wir Schlesier!“

Karsten Dahlmanns (Uniwersytet Slaski w Katowicach): Die Entzauberung der Entzauberung

Steffen Dietzsch (Humboldt-Universität zu Berlin): Vom Begriff zum Begreifen. Weltverstehen durch Mythen

Katja Freise (Georg-August-Universität Göttingen): Die Aufhebung des mythischen Synkretismus in der Zeitlichkeit des Mythos: Dziga Vertovs Celovek s kinoapparatom (Der Mann mit der Kamera) und Malgorzata Szumowskas Kurzfilm Crossroad

Matthias Freise (Georg-August-Universität Göttingen): Kolakowski als Kritiker von Bultmanns „Entmythologisierung“

Agnieszka Garufo (Uniwersytet Opolski): Aus der Feder eines österreichischen Staatsbeamten: Homerische Landschaften Alexander von Warsbergs im zeit- und ideengeschichtlichen Kontext

Aneta Jachimowicz (Uniwersytet Warminsko-Mazurski w Olsztynie): Vom habsburgischen Mythos über Joseph Roth bis zu Napoleon. Eine Entmythisierungsachse

Maria Klanska (Uniwersytet Jagiellonski w Krakowie): Der Galizienmythos in den Romanen Radetzkymarsch von Joseph Roth und Das Salz der Erde von Józef Wittlin

Dariusz Komorowski (Uniwersytet Wroclawski): „Ruhige Schweiz“ – ein Mythos auf tönernen Füßen? Literarische Repräsentation der (Un)Ruhe in ausgewählten Texten der Deutschschweizer Literatur mit besonderer Berücksichtigung des Kulturboykotts von 1991

Marta Kopij-Weiß (Uniwersytet Wroclawski): Mythologisierungen der Romantik

Grzegorz Kowal (Uniwersytet Wroclawski): Zur Affinität zwischen Mythos und Kind

Anna Majkiewicz (Akademia im. Jana Dlugosza w Czestochowie): Entmythologisierung als Textstrategie des Romans Die Kinder der Toten von Elfriede Jelinek

Zygmunt Mielczarek (Uniwersytet Slaski w Katowicach): Friedrich Dürrenmatt. Labyrinth als Basismythos
und literarisches Grundmuster

Marcin Miodek (Uniwersytet Wroclawski): Ausgewählte Aspekte des Kreuzritter-Mythos in der polnischen Soziotechnik 1945–1989

Jan Pacholski (Uniwersytet Wroclawski): „Unsere schlesischen Alpen“. Das Bild des Riesengebirges in der Reiseliteratur des ausgehenden 18. Jahrhunderts

Ewa Szymani (Uniwersytet Wroclawski): Dichter in müßiger Zeit. Wie Friedrich Hölderlin und Heiner Müller den Mythos als Aufgabe des Dichters verstehen

Natalia Zarska (Uniwersytet Wroclawski): Mythos der Fremdenlegion in Afrikanischen Spielen Ernst Jüngers

Kartoniert, 292 S.
ISBN 978-3-86276-223-1
EUR 28,00