Sprach-, Literatur- und Kulturwissenschaft

Felicitas Söhner

Vom Konfliktherd zur Modellregion

Mit einem Geleitwort von Prof. Dr. Peter Brandt, Hagen.

Aus der Einleitung der Autorin

Große Regionen Osteuropas sind historisch mehreren Nationen und Ethnien zuzuordnen und verfügen über eine mehrfache kulturelle Identität. Zahlreiche Gebiete sind schon im Mittelalter von Deutschen und Polen kulturell geprägt. Dank dieser vielfältigen Wechselbeziehungen entstand ein bemerkenswertes kulturelles Erbe in Schlesien. Aber auch in weiteren polnischen und deutschen Gebieten begegnet der aufmerksame Beobachter Spuren und Zeichen einer gemeinsamen Kultur und wechselseitiger Einflüsse, die von „zwischennationaler Migration“ und somit von einem Ausschnitt der deutsch-polnischen Beziehungen erzählen.

Der Blick auf den Landesnachbar in Schlesien wird nach wie vor von Vorbehalten und Stereotypen geprägt. Dennoch gibt es in Europa keine anderen Völker, die sich in einem solchen Maß vermischt haben und seit Jahrhunderten so eng miteinander verbunden sind wie Deutsche und Polen. Diese Arbeit interessiert sich insbesondere dafür, wie sich die ethnische Vielfalt in der Region Schlesien gestaltet und geht der Frage nach, ob dort ein alltägliches Miteinander zwischen den dort lebenden Menschen existiert und inwiefern sich Kontakte zwischen Einheimischen, Touristen und Unternehmern ergeben.

Hierbei muss die besondere Situation der Region Schlesien im Vergleich zu Gesamtpolen hervorgehoben werden, wobei weiter zu betonen ist, dass eine wirkliche Koexistenz dieser Bevölkerungsgruppen vor allem in der Wojewodschaft Oppeln existiert. Die Wojewodschaft Niederschlesien, insbesondere die Stadt Breslau, ist heute überwiegend polnisch; sie wird von Ausländern eher marginal bestimmt. In der seit dem Zweiten Weltkrieg veränderten Situation spielen Deutsche, die in dieser Region leben, eine geringere Rolle als Deutsche, die als Touristen hierher kommen oder als Unternehmer in diese Region investieren. In der Wojewodschaft Oberschlesien gestaltet sich das Bild wieder anders: Hier muss eine weitere Unterscheidung getroffen werden, zwischen einer deutschen Minderheit, alteingesessenen Schlesiern und den dort heimischen Polen.

Diese Dissertation möchte einen Blick darauf werfen, wie der gesellschaftspolitische Wandel der letzten 20 Jahre auf das jeweilige Fremd- und Selbstverständnis der schlesischen Bevölkerung Einfluss genommen hat. Anhand der Untersuchung von repräsentativen Beiträgen und Einzelfällen möchte ich den Prozess des Zusammenwachsen Europas speziell im Gebiet entlang der Ost-West-Route, der Hohen Straße in Schlesien, aufzeigen. Das Ziel der Untersuchung besteht darin, die Komplexität der persönlichen Identitäten in Schlesien darzustellen.

Dabei stellt sich auch die Frage, ob die Hohe Straße als sinnvolle Einheit in dieser Form zu betrachten ist, was ich in der Arbeit thematisieren möchte: Diese alte europäische Handelsroute und Verkehrsader bildete eine der Lebensadern des Alten Europa bis ins 19. Jahrhundert hinein. Die heutige Autobahn A4, welche immer noch größtenteils mit dem früheren Verlauf der Hohen Straße übereinstimmt, führt einen Reisenden, der in die Ukraine oder nach Südostpolen möchte durch diesen Landstrich. Dennoch hat sich der Charakter dieser Route im Vergleich zu früher grundlegend verändert. Während sich früher vor allem Kaufleute und Pilger ihrem Verlauf entlang bewegten, ist sie heute vor allem als Transport- und Kulturstraße Europas zu sehen. So bieten die Städte entlang dieser Route ein Untersuchungsfeld, das beispielhaft für die Sondersituation in dieser Region steht. In der Analyse des Materials darf dabei nie außer acht gelassen werden, dass sich die Bevölkerungszusammensetzung in dieser Region nach dem Zweiten Weltkrieg stark verändert hat und somit natürlich auch deren Charakter.

Die vorliegende Arbeit beleuchtet zum allgemeinen Verständnis zwar auch die deutsch-polnischen Bilder, jedoch soll im Gesamten die Region Schlesien und die mit ihr verbundenen Menschen im Mittelpunkt stehen. Mit dieser Dissertation möchte ich einen wissenschaftlichen Beitrag zur Erforschung von ethnischen, nationalen und regionalen Identitäten in der Grenzregion Schlesien leisten. Hierzu möchte ich jedoch weniger auf die allgemein bekannten beiderseitigen Klischees eingehen, sondern mehr die Frage erörtern, ob es Unterschiede zwischen Schlesien und Gesamtpolen gibt. An konkreten Beispielen sollen die Hintergründe und Ursprünge, die zum gegenseitigen Verständnis unabdingbar sind, beleuchtet werden. Des Weiteren sollen Wandlungsprozesse von Identität und Alltag der multiethnischen Region Schlesien mit ihrer spezifischen Gemengelage aufgezeigt werden.

Ursachen von Problemen, die im nachbarschaftlichen Miteinander von Polen, Schlesiern und Deutschen bestehen, sollen kritisch dargestellt werden und so der Verbesserung eines gegenseitigen Verständnisses dienen. Dabei lautet die erkenntnisleitende Fragestellung, inwiefern sich das Bild vom Anderen in Schlesien als Schlüsselregion im Verlauf der letzten 20 Jahre gewandelt hat. Hierbei liegt ein wichtiger Erkenntnispunkt auch im Umfang des Wandels der gegenseitigen Wahrnehmung. Neben der Analyse von Einzelfällen möchte ich anhand ergänzender Sekundäranalysen folgende weitere Punkte untersuchen:

Zum vertiefenden Verständnis des besonderen Charakters der Region möchte ich auch kurz einen Blick darauf werfen, wie diese Stereotype zustande kommen. Deren Erläuterung soll in einer grundlegenden Form geschehen. Weiter möchte ich in der Dissertation dem Leitgedanken nachgehen, welche Rolle Fremd- und Eigenbilder in Alltag und Identität der Volksgruppen im heutigen Schlesien spielen. Diesen Punkt möchte ich im Hinblick auf die einzelnen Interviews untersuchen, da es in dieser Arbeit nicht darum geht, statistisch erfasste quantitative Aussagen zu treffen, sondern jeweils im Einzelfall danach zu fragen, wie die Bilder der einzelnen Gesprächspartner existieren und wirken. Anhand von qualitativen Forschungsmethoden, insbesondere der Interviewforschung, möchte ich typische, aber auch besondere Sichtweisen und Verhaltensmuster in Schlesien aufzeigen. Dabei interessiere ich mich einerseits dafür, wie man das in den Stereotypen enthaltene Konfliktpotenzial und deren Einfluss auf die interkulturelle Zusammenarbeit reduzieren kann.

Weiter möchte ich vor allem beleuchten, welche Voraussetzungen in der Region Schlesien einen konstruktiven Dialog zwischen den Völkern schaffen können. Hier ist es meines Erachtens unabdingbar, dass die besondere Geschichte dieser Region als Ausgangsbasis für die dortige Situation nie vergessen werden darf. Gerade im persönlichen Austausch zwischen ehemaligen Schlesiern und der heutigen polnischen Bevölkerung, aber auch in wirtschaftlichen und kulturellen Kooperationen, liegt das größte Potenzial für eine gegenseitige Verständigung. Vor allem in diesen hundertfachen Begegnungen zwischen Polen und Deutschen geschieht Versöhnung auf unterster Ebene, so dass diese jahrzehntelange Ungewissheit von Heimat und somit auch der Nachbarschaft jetzt abgeschlossen werden kann.

Weiterführend geht die Arbeit auf die Fragestellung ein, ob die Sondersituation Schlesiens, die Mischidentitäten und Grenzgänger anzieht, eine positive Grundlage für ein gemeinsames Europa bildet. Ein Hauptpfeiler dieser Sondersituation ist vor allem der Bevölkerungsaustausch nach dem Zweiten Weltkrieg, ebenfalls die jahrzehntelange nationale Randlage, welche den Charakter dieser Region mit geprägt hat. Heute ist die Region in einer besonderen Lage durch ihre Eigenschaft eines Durchgangsgebietes zwischen Westen und Osten. Gerade in der Ost-West-Tangente, der alten Hohen Straße, liegt ein großes Potenzial für die Bedeutung dieses Korridors für Europa.

Zudem soll in der Dissertation thematisiert werden, ob und falls ja, in welchen Bereichen noch Förderbedarf hinsichtlich der Völkerverständigung besteht. Der Fokus dieser Arbeit liegt hierbei vor allem auf der aktuellen Lage von Polen, Schlesiern und Deutschen entlang der schlesischen Hohen Straße, auf der immer noch Besucher- und Warenströme ihren Weg gehen. Der Abschluss setzt sich zusammenfassend und kritisch mit der Renaissance der Schüsselregion Schlesien und deren Stellenwert für das Vereinte Europa auseinander.

Die vorliegende Untersuchung will dazu beitragen, das gegenseitige Interesse der Deutschen und Polen auszuweiten und ein Bild von der Situation der in Schlesien ansässigen Bewohner und ihrer Angehörigen und Nachbarn nachzuzeichnen. Diese Arbeit möchte zudem den zeitgeschichtlichen Prozess der letzten Jahrzehnte in dieser Region und dessen Auswirkungen auf diese und ihre Bevölkerung darstellen. In einem umfangreich erforschten Themengebiet gilt mein Forschungsinteresse den individuellen Erfahrungen und gegenseitigen Einstellungen der mit Schlesien verbundenen Menschen, welche bisher eher gering in der deutschsprachigen Literatur behandelt wurden.

In Kooperation mit dem
Willy-Brandt-Zentrum
der Universität Wrocław
Kartoniert, 528 S.
ISBN 978-3-86276-069-5
EUR 28,00